Inklusion ja – aber nicht so!

Im Oktober 2013 hat die GGG NRW zusammen mit dem LER (Landeselternrat der Gesamtschulen) und der SLVGENRW (Schulleitungsvereinigung NRW) anlässlich der Verabschiedung des 9. Schulrechtsänderungsgesetzes (9. SchRÄG)unter der Überschrift „Inklusion ja – aber nicht so! Inklusion nach Kassenlage schadet allen Schülern.“ eine gemeinsame Presseerklärung veröffentlicht.

In dieser Presseerklärung kritisieren wir aus der Perspektive der ausdrücklichen Befürworter das damals verabschiedete Gesetz, das die Rahmenbedingungen für schulische Inklusion setzt: „Der Landeselternrat der Gesamtschulen (LER), die GGG NRW und der SLVGE NRW begrüßen, dass mit der Inklusion die Ausgrenzung von über 120.000 Schülern beendet werden soll. Hiervon könnten alle Schüler profitieren. Der verabschiedete Gesetzentwurf ermöglicht das leider nicht.“

Damals formulierten wir vier Hauptkritikpunkte:

  1. Inklusion nach Kassenlage: Vergrößerung der inklusiven Klassen
  2. Künstliche Verringerung des Förderbedarfs durch Verfahrensänderung
  3. Verschlechterung fachlicher und pädagogischer Standards
  4. Die Schulen des längeren gemeinsamen Lernens tragen die Hauptlast

Im dritten Jahr nach der Verabschiedung des Gesetzes müssen wir jetzt nicht nur feststellen, dass diese Befürchtungen Realität geworden sind. Durch die mangelnde und ungleiche Steuerung der ohnehin zu geringen Personalressourcen und der ungleichen Verteilung der Schüler mit Förderbedarf auf die Schulformen verschärfen sich die Bedingungen vieler integrierter Schulen noch einmal.

Die Möglichkeit der minimalen Klassenverkleinerung, die die Einzelschule wegen des einzuhaltenden Richtwertes ohnehin selbst finanzieren muss, steht unter dem kommunalen Vorbehalt und ist bei einem Anmeldeüberhang nicht gerichtsfest.

Die Folge ist, dass viele inklusive Klassen „Normalgrößen“ zwischen 25 und 29 Schüler/innen haben.

Das ist für die betroffenen Schüler mit und ohne Förderbedarf unakzeptabel. Beide Schülergruppen erhalten nicht die ihnen zustehende individuelle Förderung. Wurden vor dem 9. SchRÄG inklusive Lerngruppen durchaus von Eltern von Schülern ohne besonderen Förderbedarf gezielt angewählt, weichen die gleichen Eltern heute eher inklusiv arbeitenden Schulen oder inklusiven Lerngruppen aus.  Das trifft strukturell besonders negativ die integrierten Schulformen. Die Hauptschulen, die früher den Großteil dieser Aufgaben übernommen hatten, werden immer weniger und die Gymnasien entziehen sich weitgehend dieser Aufgabe. Teilweise werden die Gymnasien von Eltern als Förderort auch nicht angenommen, da sie dort nicht die hinreichende Förderung für ihr Kind erwarten oder eine Diskriminierung befürchten.

Durch die Aufhebung des sogenannten „Etikettierungs-Ressourcen-Dilemmas“ hat die graue Inklusion, d. h. eigentlich vorhandener Förderbedarf wird nicht festgestellt, enorm zugenommen. Was früher eher die Ausnahme war, ist heute fast die Regel. Die integrierten Schulen stellen fest, dass außer den Schülern/innen mit festgestelltem Förderbedarf durch die Grundschulen ein gleich großer Anteil mit nicht diagnostiziertem Förderbedarf aufgenommen worden ist.

Das vom Land für die Stellenberechnung zugrunde gelegte Modell von Klemm/Preuss-Lausitz kann u. a. nicht funktionieren, da entgegen der Modellannahme die Doppelstruktur von Förder- und Regelschulen nicht aufgehoben ist und die Verteilung der gedeckelten Personalressource nicht nach einem schulscharfen Sozialindex vorgenommen wird.

Das vielleicht mangelhafte alte Feststellungsverfahren war offensichtlich besser als das neue Verfahren, das zudem regional unterschiedlich praktiziert wird.

Nach dem alten Verfahren zählten die Schüler mit festgestelltem Förderbedarf für die Regelstellen praktisch doppelt. Auch wenn hierauf kein Rechtsanspruch bestand. Die inklusiven Gesamtschulen, die schon vor dem 9. SchRÄG integrative Lerngruppen hatten, stellen durchweg fest, dass die Bedingungen sich für die Schulen strukturell und für die Schüler/innen individuell verschlechtert haben. Die inklusiven Klassen sind jetzt erheblich größer. Wenn sie etwas kleiner sind, müssen die nicht inklusiven Klassen umso größer sein. Und durch die Deckelung der Förderlehrerstellen bekommen die weiterführenden Schulen nach der Versorgung der Förderschulen und der Grundschulen nicht mehr die Förderlehrerstellen entsprechend der Anzahl der Schüler/innen mit Förderbedarf. Die restlichen Stellen werden auf kommunaler oder regionaler Ebene unabhängig vom Bedarf mehr oder weniger gerecht verteilt. Faktisch bekommen die integrierten Schulen jetzt weniger fachliche Unterstützung durch Förderkollegen als vorher. Dadurch leidet die fachliche Qualität und die Möglichkeit von Doppelbesetzungen wird deutlich eingeschränkt.

Die bislang vom MSW vorgenommene positive Bewertung der Inklusion an Schulen orientiert sich einseitig an der gestiegen Zahl der Schüler/innen mit besonderem Förderbedarf, die jetzt in Regelschulen unterrichtet werden. Die Bewertung durch die inklusiven Schulen unter qualitativen Aspekten selbst fällt dagegen negativ aus. Diese Bewertung wird nicht an dem Problem der Umstellung festgemacht, sondern an den gegebenen schlechten Rahmenbedingungen.

Die GGG NRW hat sich im Interesse der individuellen Förderung aller Schüler schon bei der Anhörung zum 9. SchrÄG auf der inhaltlichen Ebene für eine flächendeckende Diagnose ausgesprochen. Auf der Ebene der Ressourcen fordert die GGG NRW erneut, endlich den im Schulkonsens vereinbarten Sozialindex und den dort ebenfalls vereinbarten Inklusionsindex umzusetzen. Wenn die Inklusion gelingen soll, muss hier dringend nachgesteuert werden. Es kann doch nicht sein, dass diejenigen, die die Inklusion praktisch umsetzen wollen und müssen, sich dieser wichtigen Aufgabe lieber entziehen (sofern sie können).

Behrend Heeren

In der Zeitschrift des Landesverbandes NRW „Integrierte Schulen Aktuell“ Heft I 2016 ist die Umsetzung der Inklusion in NRW Hauptthema - zu finden unter www.ggg-nrw.de