Gesamtschulen in Hessen - Entstehungsgeschichte

Die Geschichte der Gesamtschulen reicht in Hessen bis in die Nachkriegszeit zurück, als die Besatzungsmächte die Umgestaltung des Schulwesens forderten. Auf Wunsch und mit Unterstützung des amerikanischen Landeskommissars für Hessen entstand aus Planungen seit 1949 im Jahr 1954 die „Gemeinschaftsschule“ Schuldorf Bergstraße mit allen Schulstufen und Schulformen vom Kindergarten bis zur gymnasialen und beruflichen Oberstufe und seit 1955 der ersten Förderstufe in Hessen.

1956 und 1957 wurden die Schulzentren in Kirchhain und Wolfhagen errichtet, wobei Kirchhain von Anfang an als „Gesamtschule“ bezeichnet wurde.
In den sechziger Jahren folgte aus dem Programm der Mittelpunktschulen die Grundlage für den Ausbau von Gesamtschulen, die heute als schulformbezogene Gesamtschulen bezeichnet werden. Die ersten vier „schulformunabhängigen“ (integrierten) Gesamtschulen wurden 1969 aus schulformbezogenen umgewandelt.
Seit 1969 enthielt das Hessische Schulverwaltungsgesetz, seit 1991 das Schulgesetz, die Aufforderung an die Schulträger, dass Gesamtschulen errichtet werden sollen, wenn die örtlichen Verhältnisse der Entwicklung der Schülerzahlen, das erkennbare Interesse der Eltern und das Erfordernis eines ausgeglichenen Bildungsangebotes es zulassen (§ 25 Abs. 1, § 144 Hessisches Schulgesetz). Mit der Gesetzesänderung vom 30. Juni 1999 ist diese Aufforderung in § 25 Abs. 1 entfallen.

Merkmale der Gesamtschulen

Gesamtschulen fassen die Bildungsgänge der Mittelstufe zu einer pädagogischen, organisatorischen und räumlichen Einheit zusammen und erteilen die Abschlüsse und Berechtigungen der drei Bildungsgänge der Sekundarstufe I. Gesamtschulen sind schulformbezogen (kooperativ) oder schulformübergreifend (integriert) gegliedert. Sie können eine Grundstufe und eine gymnasiale Oberstufe umfassen. Enden Gesamtschulen mit der Jahrgangsstufe 10, so sind sie in einem Schulverbund gymnasialen Oberstufen zugeordnet, damit die kontinuierliche Fortsetzung des gymnasialen Bildungsgangs bis zum Abitur gewährleistet wird. Informationen über die örtlichen Übergangsmöglichkeiten in die studienqualifizierenden und die berufsqualifizierenden Bildungsgänge der Oberstufe (Sekundarstufe II) sollen durch ein mit der Koordination zu den Oberstufenschulen beauftragtes Mitglied des Gesamtschulkollegiums gesichert werden.

Die Gesamtschulen vermitteln ihren Schülerinnen und Schülern eine allgemeine Bildung und ermöglichen ihnen entsprechend ihren Leistungen und Neigungen eine Schwerpunktbildung, die sie befähigt, je nach erreichtem Bildungsziel ihren Bildungsweg in berufs- oder studienqualifizierenden Bildungsgängen der Sekundarstufe II fortzusetzen.
Schülerinnen und Schüler, die in die Jahrgangsstufe 5 versetzt werden und deren Eltern die Förderstufe einer schulformbezogenen (kooperativen) oder die schulform-übergreifende (integrierte) Gesamtschule wählen, erhalten keine Beurteilung der Grundschule über ihre Eignung für einen weiterführenden Bildungsgang (Verordnung zur Gestaltung des Schulverhältnisses vom 21. Juni 2000, § 2 Abs. 3, ABl. 7/00, S. 602). Die Förderstufe und die schulformübergreifende Gesamtschule halten die Entscheidung über die Wahl des Bildungsgangs bis zur Ersteinstufung in Fachleistungskurse offen. Beide Gesamtschulformen ermöglichen Korrekturen der Entscheidung für einen Bildungsgang, die schulformbezogene (kooperative) durch eine hohe Durchlässigkeit zwischen den Schulzweigen, die schulformübergreifende (integrierte) durch Wechsel der Kurszuordnungen bei unveränderter Zugehörigkeit zum Klassenverband.

Schulformübergreifende (integrierte) Gesamtschule (§27 HSchG)


In der schulformübergreifenden Gesamtschule werden die Bildungsgänge der Jahrgangsstufen 5 - 10 integriert. Ihre Unterrichtsorganisation ermöglicht den Schülerinnen und Schülern individuell eine Schwerpunktbildung entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit und ihren Interessen durch Unterricht in gemeinsamen Kerngruppen und in Kursen, die nach Anspruchshöhe, Begabung und Neigung differenziert werden.

Die Fachleistungsdifferenzierung beginnt

  • in der ersten Fremdsprache und in Mathematik in der Jahrgangsstufe 7,
  • im Fach Deutsch in der Regel in der Jahrgangsstufe 7, spätestens in der Jahrgangsstufe 9,
  • im Lernbereich Naturwissenschaften in der Jahrgangsstufe 9.

Die Gesamtkonferenz entscheidet, ob die Fachleistungsdifferenzierung auf zwei (E/G) oder drei (A/B/C) Anspruchsebenen erfolgt und ob zu einem früheren Zeitpunkt, als im Schulgesetz entsprechend der Vereinbarung der Kultusministerministerkonferenz über die Schularten und Bildungsgänge im Sekundarbereich I vom 03. 12. 1993 gefordert, eingestuft werden soll. Die Fächer Erdkunde, Sozialkunde und Geschichte sind zum Lernbereich Gesellschaftslehre zusammengefasst. Die Fächer Biologie, Physik und Chemie werden in der Regel als Einzelfächer unterrichtet. Ihre Zusammenfassung zu einem Lernbereich Naturwissenschaften, in dem fächerübergreifend durch eine Lehrkraft oder miteinander kooperierende Lehrkräfte unterrichtet wird, kann nur in Schulen fortgeführt werden, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des geänderten Schulgesetzes vom 30. Juni 1999 einen Lernbereich eingeführt hatten. Die Gesamtkonferenz entscheidet, ob Biologie und eines der Fächer Physik oder Chemie im Kern unterrichtet werden. Mit Zustimmung des Staatlichen Schulamtes kann in Einzelfällen zur Erprobung eines besonderen pädagogischen Konzepts von einer Kursdifferenzierung in Deutsch und im Lernbereich Naturwissenschaften bzw. dem zu differenzierenden naturwissenschaftlichen Fach abgesehen werden.

Einstufungen und Umstufungen erfolgen gesondert für jedes Kursfach. Bei der Ersteinstufung wählen die Eltern die Anspruchsebene des Fachleistungskurses. Die Schule berät die Eltern vorher umfassend und informiert über ihr Konzept für die Gestaltung der Bildungsgänge und ihre Abschlüsse und Berechtigungen. Umstufungen in den Fachleistungskursen werden von der Schule vorgeschlagen, wenn eine Schülerin oder ein Schüler erweiterten Anforderungen gewachsen erscheint oder wenn ein erfolgreiches Mitarbeiten im bisherigen Leistungskurs nicht mehr gewährleistet ist. Vor einer beabsichtigten Umstufung werden die Eltern schriftlich benachrichtigt; sie werden gehört und beraten. Stimmen die Eltern der Umstufungsempfehlung nicht zu, verbleibt die Schülerin oder der Schüler im besuchten Kurs; die Klassenkonferenz entscheidet dann nach einer weiteren Beobachtungszeit endgültig über die Kurseinstufung (Verordnung zur Gestaltung des Schulverhältnisses, §§ 17 und 18).
Im Kernunterricht lernen Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Begabungen, Lernvoraussetzungen, Neigungen und Interessen gemeinsam. Durch dieses gemeinsame Lernen sollen soziale Lernprozesse und durch innere Differenzierung die individuellen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler entwickelt werden. Die Formen der inneren Differenzierung ergeben sich aus der Notwendigkeit, bei der Unterrichtsgestaltung und den Aufgabenstellungen auf die unterschiedlichen Voraussetzungen der Leistung und Motivation sowie das individuelle Lerntempo einzugehen. Dabei werden neben dem lehrerbezogenen Gesprächsunterricht schülerbezogene Arbeitsformen der Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit praktiziert. Sie ermöglichen als Variationen der Lernsituationen und Lernanreize methodische Vielfalt bei der Differenzierung von Aufgabenstellungen. Wochenpläne der Schülerinnen und Schüler mit einem individuell vorgegebenen Arbeitsprogramm und selbstgewählten Aufgaben unterstützen die Entwicklung selbständiger Arbeit bis hin zu längerfristigen Arbeitsvorhaben in den oberen Jahrgangsstufen. Projektorientierter Unterricht ermöglicht insbesondere bei der Nutzung der Jahresstundentafel längere und intensive Phasen der Konzentration auf fächerübergreifende Themenzusammenhänge, für die die Lehrerinnen und Lehrer des Jahrgangs einen Jahresarbeitsplan erstellen. Darin stimmen sie die Anforderungen der Rahmenpläne (Lehrpläne) für den Unterricht fachbezogen und fachübergreifend miteinander ab. Sie gewährleisten, dass die Schülerinnen und Schüler einer Klasse in den bildungsgangbezogen und den bildungsgangübergreifend zusammengesetzten Lerngruppen ein Lernangebot erhalten, das alle Bildungsgänge berücksichtigt (Verordnung über die Bildungsgänge und Schulformen der Mittelstufe (Sekundarstufe I), § 23 Abs. 2).

Die Entscheidungen über die Formen der äußeren und inneren Differenzierung richten sich nach den pädagogischen Bedingungen für das jeweilige Fach oder den Lernbereich in den verschiedenen Jahrgangsstufen, nach der Jahresplanung und nach den personellen Möglichkeiten. Dabei ist auf stabile Gruppenbezüge zu achten. Die Lehrerinnen und Lehrer sollen in einer Klasse und einer Jahrgangsstufe möglichst viele ihrer Fachstunden unterrichten. Unterricht in Fächern, für die sie nicht ausgebildet sind - fachfremden Unterricht - sollen sie nur dann erteilen, wenn sie damit ihren Stundenanteil im Jahrgang erhöhen und wenn sie in einem Team mit Fachlehrerinnen und Fachlehrern den Unterricht gemeinsam planen (Verordnung über die Bildungsgänge und Schulformen der Mittelstufe (Sekundarstufe I), § 23 Abs. 1 und Abs. 3).

Die Lehrerinnen und Lehrer der schulformübergreifenden (integrierten) Gesamtschule arbeiten gemäß der Aufgabenstellung der Schule in besonderem Maße zusammen (Verordnung über die Bildungsgänge und Schulformen der Mittelstufe (Sekundarstufe I), § 24). Neben der fachlichen Koordination des Unterrichts durch gleiche oder aufeinander bezogene Lehr- und Lernmittel und Maßstäbe für die Leistungsmessung und Leistungsbewertung in Fachkonferenzen stimmen sie fachübergreifend in Jahrgangskonferenzen die Schwerpunkte des Unterrichts und der Erziehung aufeinander ab und stellen so den Zusammenhang von Unterricht und Schulleben her. Sie gestalten Unterricht, in dem die Schülerinnen und Schüler gemeinsame und individuell unterschiedliche Lernziele verfolgen können und vermitteln ihnen, dass sie zunehmend die Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess übernehmen. Dafür entwickeln sie ein schulspezifisches und an den Übergangsmöglichkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler orientiertes Konzept der Schullaufbahnberatung und stimmen sich über geeignete Zusammenhänge für die individuelle Beratung ab.

Die schulformübergreifende (integrierte) Gesamtschule erfüllt aufgrund ihrer Aufgabenstellung und Gliederung den Bildungsauftrag der Mittelstufe unter besonderer Berücksichtigung der unterschiedlichen Lernvoraussetzungen, der Breite der individuellen Begabungen und Neigungen sowie der Unterschiede in der Lernsituation, im Lernverhalten und der kulturellen Herkunft der Schülerinnen und Schüler. Sie dient dem Ziel, durch gemeinsame Lernerfahrungen das gegenseitige Verstehen zu fördern, die Bereitschaft zu sozialem Handeln und die Fähigkeit zur Zusammenarbeit von Menschen unterschiedlicher Lern- und Lebensbedingungen weiterzuentwickeln (Verordnung über die Bildungsgänge und Schulformen der Mittelstufe (Sekundarstufe I), § 22 Abs. 1).
In der schulformübergreifenden (integrierten) Gesamtschule rücken die Schülerinnen und Schüler ohne Versetzung in die nächste Jahrgangsstufe auf. Sie können aber auch - wie in den anderen Schulformen - eine Jahrgangsstufe überspringen oder freiwillig wiederholen.

In den Jahrgangsstufen 9 und 10 wird die Entscheidung über die angestrebte Abschlussqualifikation vorbereitet. Ab der Jahrgangsstufe 8 wird den Eltern jährlich schriftlich mitgeteilt, welcher Abschluss und welche Berechtigungen der Schülerin oder dem Schüler nach dem gegenwärtigen Leistungsstand voraussichtlich zuerkannt werden können. Die Eltern und die Schülerinnen und Schüler können darauf hin mit der Schule beraten, ob Möglichkeiten bestehen, auch eine andere gewünschte Zugangsberechtigung zu einem Bildungsgang der Sekundarstufe II zu erreichen. Die Abschlüsse werden nach Regelungen erteilt, die von der Kultusministerkonferenz für die länderübergreifende Anerkennung der Gesamtschulabschlüsse bestimmt worden sind.