Entstehungsbedingungen

Der Begriff „Gesamtschule" wurde in Hessen zum ersten Mal 1956 für die Gesamtschule Kirchhain verwendet. Bundesweit populär wurde er durch das Vorhaben des Berliner Schulsenators Carl-Heinz Evers Anfang der sechziger Jahre, drei Gesamtschulen als Modellschulen einzurichten, das ab 1964 nach der „Berliner Erklärung" der Kultusministerkonferenz über den Reformbedarf des deutschen Schulwesens aus Anlass ihrer 100. Sitzung seinen entscheidenden Rückhalt bekam.

Carl-Heinz Evers propagierte die Gesamtschule in einem Referat bei der Landesvertreterversammlung der GEW Hessen, die damit ihre „Darmstädter Entschließung" zur breiten Einführung der Gesamtschule ideell absicherte. Zeitgleich mit der GEW-Offensive von 1965 wird auch in Texten des Hessischen Kultusministeriums der Begriff Gesamtschule verwendet und auf die hessische Tradition als Definition für Mittelpunktschulen bezogen, die als Schulzentren alle Schulformen der Mittelstufe und die Sonderschule enthalten.

Die hessischen Gesamtschulen gingen aus dem Programm der Landschulreform hervor, das unter dem Zeichen der Verringerung des „Bildungsgefälles" zwischen Stadt und Land stand und seit 1965 mit dem Landes-Schulentwicklungsplan Teil des Großen Hessenplans wurde. Mittelpunktschulen sollten als zentrale Schulen eines Schulverbandes mehrerer Gemeinden die Hauptschulen an einem Standort zu „vollausgebauten" Schulen zusammenfassen und sie mindestens um einen Realschulzug erweitern. Nach örtlichen Gegebenheiten sollten eine Sonderschule und in besonderen Fällen ein Gymnasialzweig einbezogen werden. Vorläufer einer solchen Entwicklung waren drei Schulzentren bzw. Gesamtschulen in den fünfziger Jahren, die zugleich Förderstufen aufgebaut hatten. Seit Beginn der sechziger Jahre wurden weitere Gesamtschulen nicht nur auf dem Land, sondern auch in Stadterweiterungsgebieten wie der Frankfurter Nordweststadt, den ehemals Mainzer Vororten Amöneburg, Kastel und Kostheim (Wiesbaden) und mit der Ansiedlung des VW-Werks in Baunatal errichtet.

1967 setzte Kultusminister Schütte eine Arbeitsgruppe Gesamtschule unter Leitung der nach Hessen berufenen Staatssekretärin Hamm-Brücher und einen Beauftragten für Gesamtschulen ein. Die Arbeitsgruppe stand im Kontakt zu Planungsgruppen anderer Bundesländer, besonders mit Westberlin, und konzentrierte sich in Hessen zunächst auf die Auswahl von vier Schulzentren, die - wie in Berlin - modellhafte Beispiele für integrierte Gesamtschulen sein sollten. Diese fanden sich in den Gesamtschulen Babenhausen, Baunatal (Theodor Heuss-Schule), Frankfurt-Nordweststadt (Ernst Reuter-Schule) und Mainz-Kastel (Wilhelm Leuschner-Schule). Nur drei Schulen der ersten Generation, die Gesamtschulen in Bruchköbel, Busecker Tal und Gießen-Ost, sind von vornherein modellhaft als integrierte Gesamtschulen geplant worden. Seit 1970 haben sich hessische Gesamtschulen einerseits programmatisch in engem Zusammenhang mit der bundesweiten Gesamtschuldiskussion als Modellschulen, andererseits pragmatisch als "Normalschulen" mit regional eigenständigem Weg aus dem Mittelpunktschulprogramm als „Verlängerung" der Förderstufenorganisation in der Sekundarstufe I entwickelt.

Die ersten vier staatlichen hessischen integrierten Gesamtschulen begannen 1969 als "voll-integrierte" Gesamtschulen mit dem 7. Schuljahr. Bis 1987 waren die Jahrgangsstufen 5 und 6 auch der integrierten Gesamtschulen Förderstufen. Um 1970 galten die schulformbezogenen Gesamtschulen, die den Status der Regelschule hatten, als Vorlaufentwicklungen zu integrierten Gesamtschulen, die bis 1982 Schulversuch waren und daher für ihre Errichtung immer der Zustimmung aller Schulgremien und der Schulträger bedurften.
Eine bundesweit einmalige Entwicklung vollzog der Kreis Wetzlar mit der Umwandlung seiner gesamten Schulstruktur zu integrierten Gesamtschulen der Sekundarstufe I und einem Oberstufenzentrum für die Sekundarstufe II. Mit den Abstimmungen für jede Schule wurde 1970/71 zugleich dem „Flächenversuch Wetzlar" zugestimmt, der im Schuljahr 1971/72 mit dem 7. Schuljahr im Anschluss an die Förderstufe begann. Im benachbarten Kreis Gießen wurden ebenfalls ausschließlich Gesamtschulen eingeführt, von denen aber die städtischen an den Standorten traditioneller Gymnasien schulformbezogen blieben. Ähnliche Flächenentwicklungen mit Ausnahme der Stadt ergaben sich um 1970 für die Kreise Kassel und Hanau.

Bis 1974 entstanden in Hessen 64 integrierte und 53 additive Gesamtschulen. Die Koalitionsregierung aus SPD und FDP beschloss 1974 einen Errichtungsstopp für integrierte Gesamtschulen und konzentrierte sich in der Schulplanung auf die landesweite Einführung der Förderstufe und den weiteren Ausbau der schulformbezogenen Gesamtschule. Die Errichtungssperre wurde mit der erneuten Koalitionsvereinbarung von SPD und FDP 1978 aufgehoben, so dass sich zunächst eine additive Gesamtschule, die Schillerschule in Offenbach, in eine integrierte umwandeln konnte und ab 1980 weitere integrierte Gesamtschulen errichtet wurden. Diese schulformunabhängigen Gesamtschulen entstanden vornehmlich in Städten und im Ballungsraum Rhein-Main. Sie orientierten sich an der Struktur der „Offenen Schulen" (Jahrgangs-Bezug, E/G-Differenzierung in „Doppelgruppen", projektorientierter Unterricht), die die FDP als ihr Gesamtschulmodell in die Koalition eingebracht hatte. Zwei Gesamtschulen der ersten Jahre, in Babenhausen und in Kassel-Waldau, wandelten sich nach dem Koalitionsprogramm offiziell gefördert zu „Offenen Schulen" als Ganztagsschulen um.

Die Gesamtschulvereinbarung der Kultusministerkonferenz von 1982 brachte mit ihren Auflagen für die Fachleistungsdifferenzierung für viele hessische Gesamtschulen eine Veränderung ihres bisherigen Selbstverständnisses. Diese Schulen hatten bis dahin die Fächer Deutsch und Gesellschaftslehre als Kernfächer für die Stabilisierung des heterogenen Klassenverbands verstanden. Elf dieser Schulen schlossen sich der Initiative für einen Antrag auf Ausnahmegenehmigung von der Differenzierung in Deutsch und teilweise den Naturwissenschaften an. Die Ablehnung des Antrags 1985 führte in einigen „Antragsschulen" zu internen Neustrukturierungen.
In den achtziger Jahren wurden im Kreis Bergstraße auf Betreiben des Schulträgers zwei integrierte in schulformbezogene Gesamtschulen umgewandelt, darunter war auch eine der „Antragsschulen", die sich mit der Verpflichtung zur Kursdifferenzierung in Deutsch nicht mehr in der Lage sah, „gesamtschulspezifisch" zu arbeiten. Eine weitere wurde nach einem Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs von 1988 in Wetzlar umgewandelt. Seit Beginn der neunziger Jahre gab es, in Frankfurt und Wiesbaden, auch wieder Umwandlungen von schulformbezogenen in schulformübergreifende Gesamtschulen, aber auch Aufhebungen integrierter Gesamtschulen. Ab 1994 und ab 1995 nahmen zwei, eine in Maintal und eine in Groß-Gerau, im 5. Schuljahr keine Schülerinnen und Schüler mehr auf und wurden schrittweise aufgelöst. In beiden Fällen bestanden am Ort zwei integrierte Gesamtschulen neben einem Gymnasium.

1999 beschloss das Kollegium der Gesamtschule Wolfhagen im Landkreis Kassel die Umwandlung in eine kooperative Gesamtschule mit Förderstufe, die seit dem Schuljahr 2000/01 schrittweise erfolgt. Ihr folgte im gleichen Landkreis die Theodor Heuss-Schule in Baunatal zum gleichen Zeitpunkt. Im Lauf des Jahres 2000 haben vier weitere Gesamtschulen im Umland von Kassel und Wiesbaden Umwandlungen in kooperative Gesamtschulen beschlossen in der Hoffnung, mit einem Gymnasialzweig Abwanderungen in die Gymnasien der Städte verringern zu können.

Veränderungen in der inneren Organisation hessischer Gesamtschulen

Die innere Organisation der integrierten Gesamtschule war in Hessen anfänglich von der Perspektive bestimmt, dass sie bis 1985 landesweit als ersetzende Schule in der Sekundarstufe I eingeführt werden sollte. Aus dieser Zielsetzung ergab sich die Maßgabe, dass sie möglichst nah an den Erwartungen blieb, die die Bevölkerung an die traditionellen Schulformen knüpfte. Wie sie zu gestalten sei, war vielerorts an der Arbeitsweise der Förderstufe zu zeigen, deren Aufgabe der „Auslese durch Förderung" darin bestand, dass neben dem gemeinsamen Kernunterricht eine äußere Differenzierung auf drei Anspruchsebenen als Erprobung an den Anforderungen der drei weiterführenden Schulformen möglich sein sollte. Ursprünglich sollte die Förderstufe erreichen, dass Eltern überzeugt würden, ihr Kind könne in einen Bildungsgang mit höheren Abschlusserwartungen übergehen als sie ihm zugedacht hatten.

Neben die Absicht des längeren gemeinsamen Lernens in der leistungsgemischten Klasse wie in der Grundschule trat das Ziel der Orientierung mit der Fachleistungsdifferenzierung in A-, B- und C-Kursen auf die traditionellen Schulformen vom 7. Schuljahr an. In den Kursen sollten die Schülerinnen und Schüler auch die Lehrkräfte kennen lernen, die die Ansprüche der Schulformen repräsentieren. So wurden zunächst die A-Kurse in der Regel von Gymnasiallehrerinnen und -lehrern unterrichtet. Viele Förderstufen warben bei Eltern, die das Abitur für ihr Kind anstrebten, mit dem Kursunterricht bei Studienrätinnen und Studienräten.

Wird die integrierte Gesamtschule den Eltern und der Öffentlichkeit wie zur Zeit ihrer Entstehung als Fortsetzung der Förderstufe vorgestellt, so ist ihr Aufbau leicht damit zu erklären, dass in höheren Jahrgängen der Anteil des gemeinsamen Kernunterrichts in der Klasse geringer und der Anteil des kursdifferenzierten Unterrichts größer wird. Zum Kollegium der integrierten Gesamtschulen gehört ein Anteil von 20 - 25 Prozent an Lehrkräften mit dem Lehramt für Gymnasien. Nach diesem Erklärungsmuster, dass sie den Anspruch auch des gymnasialen Bildungsgangs in der äußeren Differenzierung und mit der Zugehörigkeit der entsprechenden Lehrkräfte erfüllen, verstehen sich bis heute viele integrierte Gesamtschulen in Hessen und stellen ihre Schule öffentlich vor.

Als das Neuartige an der Gesamtschule wurde in Hessen anfangs vor allem ihre Größe vorgestellt, die eine optimale Ausstattung mit Fachräumen nach „modernen" Anforderungen und die Möglichkeit bietet, an den fachleistungsdifferenzierten Kursen auf unterschiedlichen Anspruchsebenen je nach Leistungsvermögen teilzunehmen und die Kursebene bei veränderten Schulleistungen wechseln zu können. Damit entfällt die Wiederholung eines ganzen Schuljahres bei Leistungsschwächen in einem Fach oder in wenigen Fächern. In der integrierten Gesamtschule gibt es kein Sitzenbleiben.

Ihre Größe, das Fachraum- und Fachunterrichtsprinzip, das für die Schülerinnen und Schüler ständige Raum- und Gruppenwechsel mit sich brachte, führte bald zur Kritik an der „Mammutschule" und in den Gesamtschulen zu Überlegungen, wie die Bezüge für die Schülerinnen und Schüler überschaubarer gestaltet werden können. Der allgemeine Rückgang der Schülerzahlen in den achtziger Jahren machte es in fast allen Gesamtschulen möglich, wenigstens feste Klassenräume für jede Klasse einzurichten. Darüber hinaus sehen es aber viele Gesamtschulen als unvermeidlich an, dass die Prinzipien der Differenzierung häufige Wechsel der Lerngruppen und Räume bedingen. Diese Organisation schafft vor allem Probleme bei den schwächeren Schülerinnen und Schülern, die mehr Beobachtung und Zuwendung der Lehrkräfte brauchen als die anderen.

Versteht eine Gesamtschule ihre Aufgabe darin, die Schülerinnen und Schüler möglichst früh erkennbar den Bildungsgängen mit ihren Abschlüssen zuzuordnen, so legt sich als Lösung der Gruppenbeziehungsprobleme leicht nahe, das Prinzip der integrierten Gesamtschule zurückzustellen und die Kurse als Grundlage der sozialen Zugehörigkeit zu einer Lerngruppe zu verstehen und damit eine eher kooperative Gesamtschulstruktur herzustellen.

Dagegen versuchen Gesamtschulen, die die Stabilität der leistungsgemischt zusammengesetzten Klasse als ihre pädagogische Aufgabe verstehen, ihre innere Organisation anders zu gestalten. Sie stellen ihre Schule mit dem Auftrag vor, die Entscheidung über den gewünschten Bildungsgang und erreichbaren Abschluss möglichst lang offen zu halten. Diese Gesamtschulen betonen den Kernunterricht in der Klasse und richten in der Regel zu den Zeitpunkten, die das Schulgesetz vorsieht, Fachleistungskurse ein. Sie differenzieren auf zwei Anspruchsebenen (E = Erweiterungskurs, G = Grundkurs), die sie zwischen zwei Klassen als Partnergruppen bei der äußeren Fachleistungsdifferenzierung organisieren. Sie beschreiben ihr Schulkonzept ausführlich und beraten zugleich kontinuierlich die Eltern und die Schülerinnen und Schüler über den Zusammenhang der Schulorganisation mit den erreichbaren Abschlüssen.

Anforderungen an die Lehrerinnen und Lehrer

Es gibt in Deutschland keine Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer für die pädagogischen, didaktischen und methodischen Anforderungen der integrierten Gesamtschule, in der Unterricht mit leistungsgemischten Lerngruppen vor allem durch innere Differenzierung gestaltet werden muss. So sind die Lehrkräfte darauf angewiesen, die Fähigkeiten zum Unterrichten in der Praxis zu erwerben. Sie müssen Erfahrungen austauschen und sich gegenseitig unterstützen und beraten.

In der hessischen Gesamtschulentwicklung wurde besonderer Wert auf die Frage gelegt, wie die fachlichen Lernziele unter den Bedingungen des Gesamtschulunterrichts erreicht werden. Zur Unterstützung waren Fachmoderatorinnen und Fachmoderatoren für Gesamtschulen vom Kultusministerium beauftragt. Sie arbeiteten mit Lehrergruppen vor allem in Modellversuchen zusammen, in denen Unterrichtseinheiten entwickelt, erprobt und bei Fortbildungsveranstaltungen diskutiert und weitergegeben wurden. Über Unterrichtsbeispiele entstand eine größere Sicherheit, die Aufgaben des gesamtschulspezifischen Unterrichts in den einzelnen Fächern und im Lernbereich Gesellschaftslehre bewältigen zu können. Hier konnte gezeigt werden, wie Themen differenziert bearbeitet werden können und dass es zahlreiche Lernmöglichkeiten für die Schülerinnen und Schüler gibt, die sich nicht einfach Bildungsgängen zuordnen, sondern die Interessen und individuellen Fähigkeiten berücksichtigen.

Dennoch blieb, vor allem auch in der Öffentlichkeit, der Eindruck, innere Differenzierung sei von „Normallehrerinnen und -lehren" kaum zu bewältigen. Das erklärt sich daraus, dass Anforderungen an die innere Differenzierung häufig so verstanden wurden und werden, als ob man den Schülerinnen und Schülern je nach ihrem Bildungsgang passende Aufgaben stellen müsste.

Eine „Revolution" des Verständnisses von innerer Differenzierung ergab sich jedoch, als „alte" Methoden der Reformpädagogik, die in den kleinen Landschulen schon immer praktiziert wurden, für die Förderstufe und für die integrierte Gesamtschule wieder entdeckt wurden. Diese Methoden beruhten ursprünglich auf der Notwendigkeit zu berücksichtigen, dass Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichem Entwicklungsstand in einer Klasse zur gleichen Zeit Verschiedenes lernen mussten, auch wenn es ein gemeinsames Thema geben konnte. Dies ist nur möglich, wenn sie selbstständig lernen können und nicht immer darauf angewiesen sind, dass die Lehrerin oder der Lehrer den Unterricht „führt". Im Zuge der Landschulreform galt es als großer Fortschritt, dass jetzt die Kinder in Jahrgangsklassen zusammengefasst werden konnten und es damit möglich schien, dass alle alles zur gleichen Zeit unter der Anleitung der Lehrerin oder des Lehrers lernen könnten. Die Unterschiede, die dann trotzdem bleiben, lassen die Schülerinnen und Schüler zu „besseren" und „schwächeren" werden, während es in der altersgemischten Klasse selbstverständlich ist, dass manche „weiter" als andere sind. (Eine eigenständige Pädagogik der altersgemischten Klasse, die die Verschiedenheit der Kinder als Voraussetzung für das Lernen unter der sozialen Erfahrung der Unterschiedlichkeit sieht, wird in der Reformschule in Kassel praktiziert; bekannt dafür sind auch seit den zwanziger Jahren Jena-Plan-Schulen.)

Statt von „innerer Differenzierung" wird in Förderstufen und integrierten Gesamtschulen zunehmend von „selbstständigem Lernen" gesprochen. Das hat zur Voraussetzung, dass in der Klasse zahlreiche Arbeitsmaterialien, insbesondere zur vielfältigen Übung, zur Verfügung stehen. Die Schülerinnen und Schüler müssen lernen, in bestimmten Teilen des Unterrichts oder in eigens dafür eingeplanten Stunden selbstständig, d. h. allein, mit einer Partnerin oder einem Partner oder in der Gruppe, zu arbeiten. Und die Lehrerinnen und Lehrer müssen über die Fächer hinaus zusammenarbeiten, weil alle ihren Unterricht entsprechend verändern müssen, wenn die Schülerinnen und Schüler zu selbstständigem Lernen angehalten werden sollen.

Diese neuartigen Anforderungen an die Lehrerinnen und Lehrer wurden in der Praxis erprobt und zwischen Lehrergruppen in einer Schule oder zwischen Schulen übermittelt. Vielfach wurden sie auch von den Grundschulen im Schulverbund angeregt und unterstützt. Da die Formen des offenen oder freien Lernens in der Gesamtschule nicht isoliert von einzelnen Lehrkräften praktiziert werden können, kann die Befähigung für diese Unterrichtsmethoden nur schwer in einer fachbezogenen zentralen Lehrerfortbildung erworben werden. Angemessen ist hier vor allem die schulinterne Fortbildung, die von den Regionalstellen des HeLP unterstützt wird. In der Schule entspricht den Voraussetzungen für das selbstständige Schülerlernen eine innere Organisation nach Jahrgangsbereichen und ihnen mit dem Hauptanteil ihrer Unterrichtsstunden zugeordnete Lehrerinnen und Lehrer. Das Lehrerteam stellt die institutionalisierte Kooperation mit fachübergreifender Zusammenarbeit zur Gewährleistung der methodischen und pädagogischen Aufgaben der Gesamtschule dar.

Anforderungen an die Schulgebäude

In der Gründungszeit der Gesamtschulen wurden bundesweit besondere Baurichtlinien entwickelt, in denen das Fachraumprinzip als vorrangig herausgestellt wurde und die auf ständige Raumwechsel angelegt waren. Diesen Bauten lag eine Vorstellung von Lernen in „optimaler Differenzierung" zu Grunde: die Schülerinnen und Schüler sollten je nach ihrem Lernentwicklungsstand je Fach einer passenden Lerngruppe zugeordnet werden. Die Versuche, durch spezielle Diagnoseverfahren und „flexible Differenzierung" Grundlagen für die Einteilungen zu finden, scheiterten in der Praxis wegen ihres hohen Verwaltungsaufwandes.

Die Gebäude waren jedoch als Grundlage für solche Differenzierungskonzeptionen errichtet. Sie zwangen zur optimalen Auslastung aller Räume und unter diesem Aspekt war ein Klassenraum für jede Klasse, in dem ja nicht ständig Unterricht stattfindet, unökonomisch. Viele Probleme, die in der Anfangszeit den Gesamtschulen angelastet wurden, waren durch die Gebäude verursacht, die die Schülerinnen und Schüler in den Pausen zu Raumwechseln zwangen und zu ständiger Unruhe im gesamten Haus führten.

Inzwischen sind die Gebäude der „Gründerjahre" vielfach umstrukturiert und sind Gesamtschulen in allen Typen von Schulgebäuden untergebracht, im einst verpönten „Kasernenbau" wie im „Schusterbau" mit mehreren Treppenaufgängen, in Pavillons wie in „entkernten Kompaktbauten" mit Innenhöfen. Diese Vielfalt ist jeweils vor Ort im Aushandeln mit dem Schulträger entstanden. Bisher konnten die Gesamtschulen ihre Schulträger von der Wichtigkeit der Klassenräume überzeugen, die die Voraussetzung für das Lernen sind, das heute als gesamtschulspezifisch angesehen werden muss, weil es der Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler besser gerecht wird als das Bestreben, nach nicht objektivierbaren Kriterien fachspezifisch „passende" Lemgruppen zu bilden.

Das Land gibt heute keine Richtlinien für Gesamtschulgebäude mehr vor. Sie würden konstruktive Lösungen zwischen Schulen und Schulträgern eher behindern als fördern. Bei nun wieder ansteigenden Schülerzahlen fürchten etliche Gesamtschulen, dass sich ihre Schulträger daran erinnern, dass früher in diesem Gebäude viel mehr Schülerinnen und Schüler untergebracht werden konnten. Dabei ist das Wie allerdings entscheidend. Die Aufgaben, wie sie in der Verordnung über die Bildungsgänge für die integrierte Gesamtschule beschrieben sind, beziehen sich auf eine Lernorganisation, die sich in der Praxis der Gesamtschulen inzwischen entwickelt und stabilisiert hat. Diese Organisation ist wieder „konservativ" und entspricht den Bedingungen in anderen Schulformen, die selbstverständlich Klassen haben, für die selbstverständlich auch Unterricht in Klassen- und Fachräumen stattfindet.

Da in der Gesamtschule Gruppen nach unterschiedlichen Kriterien wie Leistung, Interesse und Neigung zusammengesetzt werden, müssen Wechsel von Lerngruppen der Klassen untereinander vorgesehen werden. Diese Wechsel finden innerhalb des Jahrgangs statt, so dass es sinnvoll ist, die Klassenräume des Jahrgangs einander räumlich zuzuordnen und vom „Durchgangsverkehr" zu Räumen anderer Jahrgänge oder zu Fachräumen zu trennen. Die Klassenräume müssen auch für den Kursunterricht zur Verfügung stehen, also immer auch von Klassenfremden mitbenutzt werden. Das ist dann kein Problem, wenn alle Klassenräume nach gleichen Grundsätzen gestaltet sind, die für den gesamten Jahrgang gelten und wenn im Jahrgang Regeln vereinbart sind, auf deren Einhaltung alle achten.

Können solche räumlichen Bedingungen nicht geschaffen oder erhalten werden, entfallen die Voraussetzungen, unter denen selbstständiges Lernen in Räumen stattfindet, die gemäß den Lernbedürfnissen anregend gestaltet und ausgestattet sind und die den Kindern und Jugendlichen vermitteln, dass sie in der Schule zuverlässig „einen Platz" haben.

Rechtlicher Status der integrierten Gesamtschule in Hessen


Gesamtschulen können in Hessen schulformbezogen oder schulformübergreifend gegliedert sein. Da es auch andere verbundene Schulformen gibt, ist ein weiteres Erklärungsmerkmal nötig: die Gliederung des Schulwesens in der Sekundarstufe I (Mittelstufe) und Sekundarstufe II (Oberstufe) nach Bildungsgängen. Bildungsgänge werden durch ihr Lernangebot und die über sie erreichbaren Abschlüsse definiert und entsprechen den bundesweit überall eingerichteten Schulformen (Schularten), die im weiterhin geltenden "Hamburger Abkommen" der Ministerpräsidenten von 1964 beschrieben sind.

Die Kultusministerkonferenz hat am 3. Dezember 1993 in ihrer „Vereinbarung über die Schularten und Bildungsgänge im Sekundarbereich I" das Gliederungsmerkmal der Bildungsgänge aufgenommen, um die vielfältigen Schulformen in der Sekundarstufe I auf die Grundlage des Hamburger Abkommens zu beziehen und die Abschlüsse länderübergreifend vergleichbar zu machen. Zugleich hat sie festgelegt, wie „Schularten mit mehreren Bildungsgängen" gegliedert werden müssen, damit ihre Abschlüsse in anderen Bundesländern anerkannt werden.
Somit ist die integrierte Gesamtschule auch länderübergreifend als Schulform beschrieben, die die Anforderungen aller Bildungsgänge enthält und erfüllt. Das Hessische Schulgesetz lässt den Eltern bei der Wahl des Bildungsgangs die Entscheidung über die Form, in der die Bildungsgänge angeboten werden, wenn sie die Möglichkeit haben, zwischen schulformbezogenen oder integrierten Bildungsgängen wählen zu können. Darüber hinaus besteht in der Gesamtschule die Möglichkeit, dass die Schülerinnen und Schüler in der Gesamtschule auch die Anforderungen anderer Bildungsgänge kennen lernen können. Wer für sein Kind einen bestimmten Schulabschluss wünscht, kann in jedem Fall auch die integrierte Gesamtschule wählen.

Die Rahmenpläne ermöglichen den schulformübergreifenden (integrierten) Gesamtschulen, ihre schuleigenen Lehrpläne auf die für die Bildungsgänge beschriebenen Anforderungen zu beziehen. Ein gesonderter Erlass für die integrierten Gesamtschulen beschreibt, wie die Anforderungen in einem Unterricht zu verstehen sind, der nicht nach Bildungsgängen strukturiert ist, sondern im E- und im G-Kurs jeweils die Anforderungen von zwei und im Kernunterricht von drei Bildungsgängen gleichermaßen erfüllt.

Die Beschreibung der Anforderungsebenen und der entsprechend der KMK-Vereinbarung für die Abschlüsse erforderlichen Notengebung wurde mit Erlass (III B 2 - 354/0 - 15 - vom 20. März 1995) den Gesamtschulen zur Verfügung gestellt. Er wird hier dokumentiert:

Empfehlungen für schulformübergreifende (integrierte) Gesamtschulen, die Rahmenpläne in ihren schuleigenen Arbeitsplänen für den Kernunterricht und bei E/G-Differenzierung zu konkretisieren

Die Rahmenpläne für die Sekundarstufe I enthalten im unterrichtspraktischen Teil Hin- weise auf die Bestimmung des Umfangs der Lerninhalte für die einzelnen Bildungsgänge. Sie orientierten sich prinzipiell am mittleren Bildungsabschluss. Besonders für die Jahrgangsstufen 9 und 10 kennzeichnen sie Zusätze für den Bildungsgang des Gymnasiums und schlagen Reduzierungen für den Bildungsgang der Hauptschule vor.
Die Rahmenpläne sollen in schuleigenen Arbeitsplänen für die einzelnen Schulformen konkretisiert werden. Hinweise darauf werden in Teil B am Ende des Abschnitts 1.3 „Bildungsgänge" gegeben. Auf die schulformübergreifenden (integrierten) Gesamtschulen wird dabei im letzten Abschnitt kurz eingegangen. Die Lehrerinnen und Lehrer werden aufgefordert, die Bedingungen des Kernunterrichts und der Kursdifferenzierung zu berücksichtigen und offen zu legen.

Gruppeneinteilungen und Bestimmung der Anforderungen in den schuleigenen Arbeitsplänen

In der schulformübergreifenden (integrierten) Gesamtschule sind Schülerinnen und Schüler der gesamten Jahrgangsbreite vertreten. Organisationsprinzipien sind der gemeinsame Kernunterricht, Fachleistungsdifferenzierung auf zwei oder drei Anspruchsebenen und Wahlpflichtdifferenzierung. In den Kursen werden nach Fachleistung differenzierte Anforderungen gestellt. Die Schülerinnen und Schüler sind fachspezifisch den Kursen zugeordnet. Die Gruppenbildung bei zwei oder drei Anforderungsebenen richtet sich nach den angestrebten Bildungszielen und nach pädagogischen und organisatorischen Entscheidungen der Schule. Die Kurszugehörigkeit ist in der schulformüber-greifenden (integrierten) Gesamtschule eines der Merkmale für den Bildungsgang, über dessen Abschluss am Ende der Mittelstufe (Sekundarstufe I) entschieden wird.
Bei einer Differenzierung nach A/B/C werden den Kursen in der Regel die in den Rahmenplänen beschriebenen Anforderungen der drei Bildungsgänge zu Grunde gelegt. Bei einer E/G-Differenzierung müssen in jedem Kurs die Anforderungen von jeweils zwei Bildungsgängen berücksichtigt werden. Die schuleigenen Arbeitspläne richten sich nach den Organisationsformen für die einzelnen Fächer.

Differenzierungen in den schuleigenen Facharbeitsplänen

Die Fachkonferenzen beschließen für alle Fächer bzw. Lernbereiche und Jahrgangsstufen das Gesamtcurriculum und die Jahrgangszuordnung der Themen mit ihrem voraussichtlichen Umfang. Wo die Rahmenpläne Unterscheidungen für die Bildungsgänge vornehmen, sind im Gesamtschulplan die grundlegenden und die zusätzlichen Anforderungen zu kennzeichnen, da prinzipiell drei Bildungsgänge abzudecken sind. Für die 9. und 10. Jahrgangsstufe ist von den Empfehlungen der Rahmenpläne für den Bildungsgang der Hauptschule dort abzuweichen, wo von „entsprechenden Lerngruppen" die Rede ist, die weder im Kernunterricht noch im G-Kurs bestehen. Am Ende des 9. Schuljahres müssen die grundlegenden Themen bearbeitet sein, wenn Schülerinnen und Schüler die Gesamtschule mit dem Hauptschulabschluss verlassen. Entsprechend müssen auch die Empfehlungen einiger Rahmenpläne modifiziert werden, die Ziele für den Hauptschulabschluss mit den Anforderungen der Jahrgangsstufe 8 im Mittleren Bildungsgang gleichsetzen, da sowohl im Kernunterricht als auch im G-Kurs Schülerinnen und Schüler aller Bildungsgänge vertreten sind. Die Pläne der einzelnen Fächer oder Lernbereiche sind auf der Jahrgangsebene thematisch abzustimmen.

Konkretisierung der Anforderungsebenen für den Unterricht


Die konkrete Unterrichtsplanung erfolgt nach der fachübergreifenden Abstimmung der Themen für alle Fächer im Jahrgang. In der Unterrichtsplanung sind die Differenzierungen des Schularbeitsplans bei der Kennzeichnung der Anforderungsebenen zu Grunde zu legen.
Im Kernunterricht und den beiden Kursen der E/G-Differenzierung liegen einer Lerngruppe unterschiedliche Anforderungen zu Grunde, die in einer binnendifferenzierenden Gestaltung des Unterrichts von den Schülerinnen und Schülern individuell erfüllt werden. Der Kernunterricht umfasst die Anforderungen der Inhalte von drei, der E- und der G-Kurs von jeweils zwei Bildungsgängen.

Unterrichtsgestaltung in den Jahrgangsstufen 9/10 im Kernunterricht und bei E/G-Differenzierung

Im 9. und 10. Jahrgang haben alle Schülerinnen und Schüler eine Einschätzung der Klassenkonferenz über den nach ihren bisherigen Schulleistungen voraussichtlich erreichbaren Abschluss. Den unterrichtenden Lehrkräften muss die mitgeteilte „Tendenz" bekannt sein und darüber hinaus, ob diese mit den selbst gesetzten Zielen der einzelnen Schülerinnen und Schüler bzw. den Wünschen der Eltern übereinstimmt. Im binnendifferenzierenden Unterricht, der in Übungs- und Vertiefungsphasen und bei projektorientierter Arbeit weit-gehend durch selbstständiges Lernen der Schülerinnen und Schüler gestaltet wird, sollen differenzierende Anforderungen bzw. Arbeitsergebnisse der Schülerinnen und Schüler den Bildungsgängen entsprechend kenntlich gemacht werden.

a) Besonderheiten für den Kernunterricht
Im Kernunterricht ist prinzipiell von den Themen und Anforderungen des Mittleren Bildungsganges auszugehen. Durch innere Differenzierung können in Phasen von selbstständiger Arbeit, projektorientertem Unterricht oder bei individualisierenden Aufgabenstellungen unter-schiedliche Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt werden.

b) Besonderheiten der E/G-Differenzierung
Bei einer Fachleistungsdifferenzierung in E- und G-Kursen werden für beide Kurse die Anforderungen des Mittleren Bildungsganges zu Grunde gelegt. Der E-Kurs umfasst die Anforderungen des Mittleren Bildungsganges mit Zusätzen, der G-Kurs wird von den grund-legenden Anforderungen ausgehend bestimmt, wobei die „Normal"-Anforderungen des Rahmenplans weitgehend einbezogen werden.

c) Anforderungen im E-Kurs
Bei der Gestaltung des Unterrichts und der Bestimmung der Anforderungsebenen für den E-Kurs muss berücksichtigt werden, dass die Notenstufen für die Versetzung in die gymnasiale Oberstufe denen der Berechtigung zum Übergang mit dem Mittleren Abschluss entsprechen. Im E-Kurs der Gesamtschule wird vorausgesetzt, dass die Schülerinnen und Schüler durch innere Differenzierung oder besondere Aufgabenstellungen vertiefte Anforderungen des gymnasialen Bildungsgangs kennen gelernt und erfüllt haben. Diese werden in der Gesamtschule individuell durch Binnendifferenzierung vermittelt. Sie stellen Kriterien zur Beurteilung der Eignung für die gymnasiale Oberstufe dar.

d) Anforderungen im G-Kurs
Für den Unterricht im G-Kurs sind die Anforderungen des Mittleren Bildungsganges grundlegend. Werden für Schülerinnen und Schüler, die den Hauptschulabschluss anstreben, individuell reduzierte Anforderungen gestellt, muss erklärt werden, dass die lerngruppenbezogen erteilten Noten dies berücksichtigen.
Verlässt eine größere Anzahl von Schülerinnen und Schülern die Gesamtschule nach dem 9. Schuljahr, verändert sich die Zusammensetzung der Lerngruppe, nicht aber die Bestimmung der Anforderungsebenen im G-Kurs.

Auszug aus: Integrierte Gesamtschule in Hessen. Eine Bestandsaufnahme (Hrsg.: Dr. Ursula Dörger)
Hessisches Landesinstitut für Pädagogik, Materialien zur Schulentwicklung Band 30,
Wiesbaden 1999, S. 9 – 15 (Text aktualisiert auf Stand Februar 2001)