Länderbericht Rheinland-Pfalz 2019/1

Vortrag von Brigitte Schumann

Am 26. Oktober 2018 hielt Brigitte Schumann einen Vortrag zu ihrer Streitschrift Inklusion. Was Sonderpädagogik und Bildungspolitik verschweigen (Frankfurt/M. 2018) in Mainz.

Sie schlug den Bogen von der Salamanca-Erklärung (1994), die von 94 Regierungen der Welt unterzeichnet worden war und das Prinzip des gemeinsamen Lernens aller Kinder forderte hin zur Behindertenrechtskonvention, die Inklusion aus dem Menschrecht der bedingungslosen Zugehörigkeit ableitet und deren Unterzeichnung durch die BRD sich 2019 zum 10. Mal jährt.

 Zu Beginn ihres Vortags stellte sie klar, dass sie nicht die Begrifflichkeit der KMK übernehmen werde, die Sonderpädagogik in Förderpädagogik umetikettiert habe, sondern sie bleibe bei dem Begriff Sonderschule bzw. Sonderpädagogik.

Schumanns Vortrag zielte auf die politischen Hintergründe der festgefahrenen Inklusionsdebatte. Sie untersuchte den politischen Umgang mit dem internationalen Menschenrecht und den Kinderrechten und erläuterte die Rolle der KMK, die kurz vor der Salamanca-Konferenz sich ausdrücklich zur Sonderschule bekannte. In den letzten 10 Jahren stabilisierte die KMK die Position der Sonderschulen und der Sonderschullehrkräfte, indem sie das Elternwahlrecht über das Recht des Kindes stellt und das Sonderschulwesen vorrangig vor der inklusiven Bildung finanziert. Damit erhält sie den Status quo und fördert den Ausbau des Doppelsystems statt die Transformation des Schulsystems insgesamt und damit die Überwindung des Sonderschulwesens in Angriff zu nehmen.

Dies alles ist für Schumann eng verknüpft mit dem „Mythos Gymnasium.“ Sie führt aus, dass der Elternwille letztendlich der Elternwille fürs Gymnasium ist. In Hamburg habe eine „kleine, mächtige, rabiate Elternlobby“ (W. Heitmeyer) die Einführung der 6jährigen Grundschule verhindert, und sie kritisierte die Politik, die davor einen Kotau mache.

Solange die Politik das Gymnasium für unantastbar hält, so lange wird sich nichts Grundlegendes in Sachen Inklusion tun. Inklusion fordert in letzter Konsequenz das Lernen aller Kinder in EINER Schule, da passe die Auslese in deutschen Schulen in und nach der vierten Klasse nicht dazu.

Mit diesem Mythos eng verknüpft ist der „Mythos von der Unverzichtbarkeit der Sonderschulen.“ Dieser Mythos hat eine lange politische Tradition. Er entstand im Kaiserreich und wurde von den Nazis weiter verfestigt. Hinzu kam im Dritten Reich die Unterscheidung der Kinder in „bildungsfähig“ und „bildungsunfähig.“ Gedankengut und Praxis erfuhr nach 1945 Kontinuität, auch wenn die Begründungszusammenhänge abgewandelt wurden.

Angesichts dieser massiven Beharrungskräfte fragt Schumann nach Strategien der Veränderung und Überwindung. Sie fordert zum gesellschaftlichen Druck auf, ermuntert uns Bündnisse zu schließen, die Mythen historisch und gesellschaftspolitisch aufzuarbeiten, die Folgen der Segregation aufzuzeigen und die positiven Effekte für einen von Solidarität und Wertschätzung getragenen Umgang miteinander in der Demokratie ins Bewusstsein zu rücken.

Ganz zum Schluss ermunterte sie uns, gegen die Verletzung des § 24 der BRK auch juristisch vorzugehen: Ein Untersuchungsverfahren gegen Deutschland wegen schwerwiegender systematischer Verletzung der UN-BRK §24 in Gang zu bringen, wäre eine zusätzliche Möglichkeit, die Verfälschung der Inklusion aufzudecken und den Diskussionsprozess, der derzeit gegen Inklusion läuft, neu zu justieren. Nach dem Fakultativprotokoll könne sogar eine einzelne Person ebenso wie eine Organisation eine solche Beschwerde auf den Weg bringen.

2019 wird eine internationale Kommission in Deutschland den Fortgang der Inklusion unter den Kriterien Lehrerfortbildung, Anteil behinderter Lehrkräfte in den Schulen und der Anteile inklusiv beschulter Kinder in Augenschein nehmen. Man braucht wohl nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie beschämend dies für Deutschland ausgehen wird.

ROSEMI WAUBERT DE PUISSOT