Ein Nachruf von Ingrid Ahlring

Ursula Dörgers Lebenslauf liest sich wie ein Streifzug durch die Gesamtschulentwicklung der Bundesrepublik.

Ursula Dörger ist tot. Sie hat am Ende den Kampf gegen den Krebs verloren. Bis ganz zum Schluss, bis es nicht mehr ging, hat sie in Telefonkonferenzen, Mails und Korrespondenzen an unserem großen, gemeinsamen Ziel gearbeitet:

Ein Schulsystem zu schaffen, das kein Kind beschämt und keines zurücklässt, das allen Kindern gleichermaßen eine gute Bildung zuteilwerden lässt.

Ursula Dörgers Lebenslauf liest sich wie ein Streifzug durch die Gesamtschulentwicklung der Bundesrepublik.

Sie begann ihre Lehrtätigkeit an einer Gesamtschule im Aufbau und engagierte sich von Anfang an nicht nur pädagogisch, sondern auch politisch. Sie wusste: wer gute Pädagogik will, wer gar ein anderes Schulsystem will, der muss den Marsch durch die Institutionen antreten. So war sie seit den 60er Jahren Gewerkschaftsmitglied und trat kurz danach in die FDP ein, die damals in Hessen u. a. das Modell der "Offenen Schule" anbot. Dort wurde der Keim gelegt für eine "andere" Gesamtschulpädagogik – eine, die als Ganztagsschule konzipiert über Fächergrenzen hinaus schaut, sich ins Umfeld öffnet und das Leben in die Schule hinein holt. Die Offene Schule Kassel-Waldau ist als einzige dieser Modelle übrig geblieben und hat viele Nachahmer gefunden.

In den 70er Jahren arbeitete Ursula Dörger an den Universitäten Frankfurt und Siegen. Dort erwarb sie die wissenschaftliche Basis für ihre späteren Tätigkeiten. Sie war Dezernentin für Gesamtschulentwicklung am Hessischen Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung (HIBS), leitete drei Jahre lang das Projekt Lehrerkooperation an Gesamtschulen der Max Traeger-Stiftung und war seit 1992 – inzwischen SPD-Mitglied – im Hessischen Kultusministerium für Gesamtschulen zuständig. Auf ihre Impulse und Ideen gehen die Materialien für Freies Arbeiten in der Sekundarstufe I in Hessen zurück; sie schulte die Pädagogischen Leiter an Gesamtschulen und gründete als Ministerialbeamtin den Arbeitskreis E/G-differenzierender Gesamtschulen, in dem sich die fortschrittliche Gesamtschulbewegung Hessens wiederfand. Immer in engem Kontakt mit der Schulwirklichkeit konnte sie ihre ministerielle Arbeit auf Praxiserfahrung gründen und sorgte umgekehrt dafür, dass fortschrittliche Praxis justitiabel wurde. Gemeinsamer Unterricht, integrierte Hochbegabtenförderung, Förderplanentwicklung, Inklusion – Ursula Dörger unterstützte, ermutigte, gründete Arbeitsgruppen und ließ nichts unversucht, um das System in Richtung auf mehr Bildungsgerechtigkeit zu verändern

Ihre bildungspolitische "Heimat" war die GGG. Auch hier kannten wir sie stets als streitbar für die Sache des gemeinsamen Lernens. Mit Freude nahm sie zur Kenntnis, dass nach PISA Bewegung in die deutsche Bildungslandschaft geraten war; mit großer Zähigkeit schrieb sie bis zum Schluss auch GGG-intern gegen das "Ausruhen in der Zweigliedrigkeit" an. "Radikal, humorvoll, kämpferisch und menschlich" nannte sie Katrin Höhmann in ihrem Nachruf.

Ursula Dörgers großes Wissen war nie Herrschaftswissen, weil sie es uns stets mitteilte. "Ihre Visionen leben in unserer Arbeit fort", schrieben die Wiesbadener Gesamtschulen in ihrer Traueranzeige, "ihre Leistung wird uns stets Orientierung und Ansporn bleiben" formulierte die GGG. So wird es sein.